Kulturell erlaubt, trotz erheblicher Risiken – die Droge Alkohol

Gerd GlaeskeArtikel als PDF

Nikotin, Medikamente und Alkohol – das sind die „Stoffe“, die in Deutschland am häufigsten mit Missbrauch und Abhängigkeit in Verbindung gebracht werden.Allein bei den 18- bis 64-Jährigen in Deutschland (51,6 Mio. Menschen) gelten 3,8 Mio. Menschen als nikotin- und 1,3 Mio. Menschen als alkoholabhängig, in der gesamten deutschen Bevölkerung sind schätzungsweise 1,5 – 1,9 Mio. Menschen abhängig von Medikamenten (DHS 2011).

Charakteristische Unterschiede zwischen diesen drei Stoffen, sowohl in der gesellschaftlichen Bewertung wie in der Beschaffung, dürfen nicht übersehen werden: Nikotin und Alkohol werden als kulturell integrierte Mittel betrachtet, dabei ist Nikotin eher wegen der gesundheitsschädlichen Wirkungen auf die Menschen in der Diskussion, z.B. im Hinblick auf die Häufigkeit von Lungenkrebs und die Auswirkungen des „Passivrauchens“, Alkohol eher wegen der individuell erkennbaren Auswirkungen auf die Gesundheit von Psyche und Körper insgesamt. Beide Stoffe werden aber breit, zumeist rund um die Uhr, und mit nicht unbedingt wirkungsvollen Kontrollen angeboten – über Automaten, in Supermärkten, Gaststätten, Kiosken oder auch in Tankstellen. Der Zugang zu den Mitteln ist demnach einfach, auch wenn für beide gesetzliche Altersgrenzen beim Kauf festgeschrieben sind. Jeder weiß aber – und dies ist auch durch Testkäufe häufig genug belegt –, dass die Instrumente zur Alterskontrolle oft genug umgangen werden: Jugendliche bekommen auch Zigaretten oder Alkohol, wenn sie noch unter 16 Jahre alt sind, obwohl die gesetzlichen Regelungen den Verkauf von Zigaretten für Jugendliche unter 18 Jahren verbieten (darum der Nachweis z.B. per Führerschein an den Automaten) und bei alkoholischen Getränken der Alkoholgehalt bestimmt, ob die Spirituosen bereits für Jugendlich ab 16 (alkoholische Mixgetränke) oder ab 18 Jahren („harte“ Alkoholika) verkauft werden dürfen.

Während nikotin- und alkoholhaltige Produkte relativ problemlos zu erwerben sind, sieht die Situation bei Arzneimitteln ganz anders aus: Ärztinnen und Ärzte, Apothekerinnen und Apotheker wachen als Fachleute über den bestimmungsgemäßen Gebrauch von Medikamenten, die Entstehung von Missbrauch und Abhängigkeit  muss daher auch als eine Nachlässigkeit in der Informations- und Beratungsverpflichtung beider Berufsstände gesehen werden – schließlich ist bekannt, welche der rund 60.000 auf dem Markt angebotenen Produkte ein eigenes Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial haben (Glaeske 2011). Daher ist die große Zahl von Medikamentenabhängigen auch ein Anzeichen dafür, dass die Arzneimittelsicherheit in der Medizin nicht immer ausreichend berücksichtigt wird und oftmals noch immer leichtfertig über lange Zeiträume Schlaf-, Schmerz-, Migräne und Beruhigungsmittel verordnet werden. Allerdings soll in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, dass der unkontrollierte Beschaffungsweg von bekannten Arzneimitteln über das Internet zunimmt – da sind auch stärkst wirksame Medikamente ohne Rezept zu haben.

Gegenüber der hohen Zahl von Nikotin-, Alkohol- und Medikamentenabhängigen insgesamt, die bei etwa 6,5 bis 7,0 Millionen Menschen liegt, steht die Zahl der maximal rund 1 Mio. Abhängigen von sog. illegalen Drogen wie Cannabis (525-750 Tsd.), Kokain (52-135 Tsd.) und Amphetaminen (45-123 Tsd.), gemessen an der öffentlichen Diskussion in einem auffälligen Ungleichgewicht: Die 7 Mio. Abhängigen von „kulturell verankerten Drogen“ spielen im Hinblick auf gesetzliche Reglementierungen und Sanktionierungen bei Verstößen der „Anbieter“ eine deutlich geringere Rolle als die cannabisrauchenden oder kokainschnupfenden User. Die Auswirkungen dieser ungleichen Aufmerksamkeit bezüglich der hierzulande vorkommenden Abhängigkeiten sollten nicht unterschätzt werden: Die Marktbeteiligten am Verkauf von alkohol- oder nikotinhaltigen Produkten und schon gar von Medikamenten sind deutlich weniger unter gesetzlicher Beobachtung als die Vertreiber illegaler Drogen, obwohl die Folgen für das Individuum und für die Gesellschaft durchaus vergleichbar oder – z.B. bezogen auf Cannabis – oft sogar als weniger schwerwiegend bewertet werden müssen. Um das Bild rund zu machen: An allen legalen „Drogen“ verdient der Staat mit: Tabak-, Alkohol- und Mehrwertsteuern betragen pro Jahr über 30 Mrd. Euro – ein Steueraufkommen, das bei den illegalen Drogen fehlt! Vielleicht liegt hierin auch ein Grund für das Ungleichgewicht der staatlichen Konsequenzen gegenüber den verschiedenen Drogen.

Alkohol ist aus unserer Gesellschaft nicht mehr wegzudenken, die Werbung in Rundfunk, Fernsehen und Printmedien ist allgegenwärtig – 500 Mio. Euro werden pro Jahr investiert (DHS 2011: 10). Selbst Prominente und bekannte Sportler lassen sich für Werbekampagnen „einkaufen“, obwohl gerade solche Personen ihre Vorbildfunktion insbesondere für Kinder und Jugendliche ernst nehmen und eher für den Verzicht als für den Konsum von Alkohol aufrufen sollten. Es kann daher nicht erstaunen, dass das Alter beim Erstkonsum von Alkohol bei 13,2 Jahren liegt – der erste trunkene Zustand gleicht einem Initiationsritus unter Kindern und Jugendlichen, der den Zugang zur „Ingroup“ von coolen Schülerinnen und Schülern ebnet (Settertobulte/Richter 2009). Der Konsum von Alkohol in Deutschland, berechnet als 96%iger Reinalkohol, lag im Jahre 2005 bei 12,8 Litern (Registrierter und nicht registrierter Alkoholkonsum zusammengerechnet – letzterer beinhaltet z.B. Alkohol aus dem Grenzverkehr oder Schwarzbrand). Damit liegt Deutschland, bezogen auf den registrierten Konsum, auf Platz 11 in Europa, deutlich nach z.B. Tschechien, Estland, Irland, Frankreich oder Österreich, deren registrierter Konsum zwischen 12 und 15 Litern liegt (siehe Tabelle 1) (Gaertner et al. 2011: 36f)

Tabelle 1: Registrierter und nicht registrierter Alkoholkonsum pro Kopf der Bevölkerung im Alter von 15 oder mehr Jahren in den EU-Staaten und ausgewählten Ländern (in Liter Reinalkohol)

Registrierter Alkoholkonsum (2005)

Liter

Nicht registrierter Konsum (2005)

Liter

Tschechien

15,0

1,5

Estland

13,8

1,8

Irland

13,4

1,0

Frankreich

13,3

0,4

Österreich

12,6

0,6

Portugal

12,5

2,1

Ungarn

12,3

4,0

Slowenien

12,2

3,0

Litauen

12,0

3,0

Luxemburg

12,0

1,0

Deutschland

11,8

1,0

Vereinigtes Königreich

11,7

1,7

Dänemark

11,4

2,0

Rumänien

11,3

4,0

Bulgarien

11,2

1,2

Russische Föderation

11,1

4,7

Schweiz

10,6

0,5

Slowakei

10,3

3,0

Spanien

10,2

1,4

Australien

9,9

0,1

Belgien

9,8

1,0

Finnland

9,7

2,8

Polen

9,6

3,7

Niederlande

9,6

0,5

Lettland

9,5

3,0

Griechenland

9,0

1,8

Vereinigte Staaten

8,4

1,0

Italien

8,4

2,4

Zypern

8,3

1,0

Japan

7,8

0,2

Schweden

6,7

3,6

Norwegen

6,2

1,6

China

4,2

1,7

Malta

3,9

0,4

Nicht registrierter Konsum: z.B. durch Grenzverkehr, Schwarzbrand.

Quelle: WHO Daten, nach Abfrage durch Gaertner et al. 2011.